In Spitzbergen gibt es ein eindeutiges Zeichen für den Sommeranfang: Wenn sich bei dem Schneefeld am Berg gegenüber, das aussieht wie ein riesiges Sektglas, der Kelch vom Stil trennt. Aber nun ist das Glas fast völlig weg.
Wenn man im August mit Michelle van Dijk, der Besitzerin des Campingplatzes von Longyearbyen, einen Videocall machte, saß sie meistens mit einem T-Shirt in der Sonne. T-Shirts im August, das ist in vielen Teilen der Nordhalbkugel nichts Ungewöhnliches. In Spitzbergen schon. Denn Spitzbergen gehört zur Arktis, und in dieser Klimazone steigen die Durchschnittstemperaturen auch im Juli nie höher als zehn Grad. Zehn Grad sind nun kein T-Shirtwetter. Doch in den vergangenen Jahren kam es immer wieder vor, dass sogar mehr als 20 Grad in Longyearbyen gemessen wurden, noch vor wenigen Jahren waren das unvorstellbare Temperaturen in diesen Breiten.
Der Juni 2024 war in Longyearbyen mit einem Monatsmittel von 6,1°C wärmer als alle seine Vorgänger, aber solche Rekorde sind in Longyearbyen schon lange keine Sensation mehr, weil es ja ständig wärmer ist als je zuvor. In Spitzbergen, kurz gesagt, war es diesen Sommer so sonnig, wie wir es in Deutschland gerne auch etwas länger gehabt hätten.
2023 lag das Juli-Monatsmittel zum ersten Mal bei 10,1 Grad. Erschrocken blickte man da auf die Tabellen und konnte es kaum glauben. Denn nach der gängigen Definition lag Longyearbyen damit nicht mehr in der Arktis. Das ist doch unvorstellbar, oder nicht? Mit Spannung also wurden die Werte 2024 erwartet. Nach dem sehr warmen Juni ahnte man schon Böses, aber der Juli landete bei 8,4°C. Der August dafür bei 11,7°C.
(Daten können hier eingesehen werden: https://seklima.met.no/observations/)
Das ist das Spannende an der Arktis: Hier geht die Klimaerwärmung so viel schneller als anderswo. Man kann dort, wo die Durchschnittstemperaturen schon um sechs Grad angestiegen sind, sehen, wie das alles auch bei uns mal werden wird, wo wir uns global doch noch mit 1,5 Grad abmühen. Der Grund, warum es in der Arktis schneller wärmer liegt, ist die polare Verstärkung, ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Einer davon ist, dass immer mehr Wärme absorbiert wird, wenn es weniger Eis gibt, das die Wärme bisher reflektiert hat. Unser Kühl-Aggregat wird sozusagen immer kleiner.
Das fehlende Eis führt auch dazu, dass sich das Wasser stärker erwärmt, und diese Wärme wird im Herbst dann an die im Vergleich kühlere Atmosphäre abgegeben – es dauert relativ lang, bis sich neues Eis bilden kann und das bleibt dann meistens dünner und schmilzt wiederum früher.
Nicht zu vernachlässigen sind auch die Wolken, die durch die höhere Verdunstung über den Meeresflächen entstehen – in der Arktis wärmen Wolken, weil keine Wärme an die Atmosphäre abgegeben werden kann.
Wasserdampf und feuchtere Luft führt allerdings auch zu mehr Niederschlägen. Es war in Longyearbyen diesen Sommer deswegen nicht nur sonnig, sondern zwischendurch urplötzlich auch sehr nass: Spitzbergen liegt eigentlich in der Zone der arktischen Wüste, mit sehr wenigen Niederschlägen. Im Juli aber regnete es in Longyearbyen (Messstation Flughafen) mehr als doppelt so viel wie im langjährigen Mittel, nämlich 48,7 anstelle von 20mm, und das meiste davon auch noch in sehr kurzer Zeit: Am 6. Juli fielen innerhalb von 24 Stunden 22,7mm, so viel, dass im Ort durch die Wassermassen gleich eine Fußgängerbrücke beschädigt wurde. Tage mit anhaltendem Regen sind ein sehr neues Phänomen auf Spitzbergen. Sie setzen unter anderem besonders den Gletschern zu, die dadurch noch besser geschmiert werden und schneller fließen.
All diese Faktoren führen schlussendlich dann dazu, dass immer mehr Tiere in Spitzbergen auftauchen, die es in der hohen Arktis bisher nicht gab: So wurde in den letzten Monaten mehrmals ein Seeadler gesichtet, der sich bis nach Spitzbergen getraut hat.
Und zu Michelle van Dijk eben, die im T-Shirt auf dem Campingplatz sitzt. Noch nie hat sie an so vielen Tagen T-Shirt tragen können wie 2024, sagt sie, und das will was heißen, denn Michelle ist seit bald 30 Jahren in Spitzbergen. Als Beleg deutet sie hinter sich, auf die andere Seite des Fjords hinüber, wo das Schneefeld in Sektglasform prangt. Prangen sollte. Kelch und Stil sind lange gebrochen, das ist für August normal. Aber nun ist beinahe das ganze Glas geschmolzen. Und das ist dann doch wieder ungewöhnlich.
Bis in zwei Wochen!
Eure
Birgit Lutz