Der Narwal ist ein mystisches, bezauberndes, wunderbares Tier, das sich an den Rändern unserer Erde pudelwohl fühlt.
Einmal hatte ich eine Gruppe zu leiten, in deren Reiseprogramm stand, dass wir am dritten Tag nachmittags Narwale sehen würden. Da freute ich mich sehr, denn ich hatte noch nie welche gesehen. Zwar war ich oft in Narwal-Gebieten, in Grönland oder in der russischen Arktis – das Wahrzeichen des russischen arktischen Nationalparks ist ja sogar der Narwal – allein, gesehen habe ich nie einen. Außer einen Kadaver in Spitzbergen, aber, naja.
Daraus wird schon ersichtlich, dass es recht gewagt ist, ein solches Tier in Spitzbergen als Nachmittagsprogramm in eine Broschüre zu drucken. Enttäuschung ist hier vorprogrammiert, von uns braucht es dann sehr ambitioniertes Erwartungsmanagement. Aber der Narwal ist nun mal ein Tier, das man nicht so häufig sieht. Buckel- Blau- und Finnwale begegnen uns auf den Spitzbergenreisen häufiger, auch Grönlandwale ab und an, Zwergwale sowieso. Narwale? Nicht so. Sie sind eher in der Nähe des Packeises zu finden, am häufigsten rund um Grönland, in Kanada in der Baffin und Hudson Bay und in Sibirien.
Was ist das für ein Tier?
Der Narwal gehört zu den Zahnwalen und ist eher klein: Ohne Stoßzahn sind Narwale vier bis fünf Meter lang. Auch besonders schwer sind sie im Wal-Quartett nicht, das Männchen wiegt rund anderthalb Tonnen, das Weibchen nicht ganz eine. Wie beim Beluga sind auch beim Narwal die jüngeren Tiere dunkler gefärbt, wobei der Narwal nicht weiß, sondern hellbraun bis weiß ist, mit einem dunkleren Kopf und Nacken. Er hat keine Rückenfinne und seine Flipper, die Brustflossen, sind relativ kurz, abgerundet und nach oben gebogen.
Sein Körper sieht beinahe aus wie der einer Robbe, mit einer kleinen Fluke.
Was aber gar nicht nach Robbe aussieht, ist das Merkmal, das die Narwal-Männchen zumindest einzigartig macht: Das ungebremste Wachstum eines (meist ist es der linke) Eckzahns. Gar wundersam ist dieser Zahn geformt, in Grönland durfte ich diese erjagten Trophäen schon bestaunen: Schraubenförmig gegen den Uhrzeigersinn wächst der Eckzahn aus dem Mund heraus und wird bis zu drei Meter lang und bis zu zehn Kilogramm schwer. Weil es sich dabei eben um Elfenbein handelt, sind diese Zähne begehrt und eine Menge Geld wert. Ganz selten haben Männchen sogar zwei der Stoßzähne, normalerweise aber ansonsten sowieso nur noch einen weiteren Zahn. Ganz anders als die Weibchen, deren Zähne meistens normal entwickelt sind – manchmal haben aber auch sie Stoßzähne.
Ein Tier wie der Narwal sorgt natürlich für etliche Vermutungen, warum er denn nun so aussieht. Mal dachte man, der Zahn würde zum Durchstoßen der Eisdecke dienen, mal zum Aufspießen von Fischen. Durchgesetzt haben sich zwei Ansichten: einmal als Dominanzmerkmal oder noch viel interessanter: als Sinnesorgan! Denn der Stoßzahn enthält etwa zehn Millionen Nervenenden – und mit diesen kann er wohl die Temperatur und den Wasserdruck, sowie den Salzgehalt des Meerwassers erfassen, und: die Zahl der Beute in Abhängigkeit von Tiefe. Wenn das nicht spektakulär ist.
Sicher ist aber noch nichts, was natürlich auch an dem etwas mühselig zu erforschenden Forschungsobjekt liegt, der sich an die Reisepläne von Forschungsschiffen genauso wenig hält wie an Touristenbroschüren.
Weniger wissenschaftlich war die Ansicht im Mittelalter, dass der Narwalzahn das Horn des Einhorns war. Wo die so seltsam gedrehten Zahnstangen herkamen, war lange nicht bekannt, also war das Horn der Beleg für die Existenz des Einhorns. Damals war es noch wertvoller als heute: Sein Gewicht wurde in Gold aufgewogen. Und als die Pest in Europa wütete, galt das Pulver aus dem Zahn als Heilmittel; der Zahnpreis stieg dann sogar auf das zwanzigfache seines Gewichts an.
In Grönland hat mir ein Jäger einen langen Narwalzahn gezeigt, stolz und schüchtern gleichzeitig. Er beschrieb mir die aufregende Jagd, bei der auch heute noch immer wieder Jäger ums Leben kommen, in ihren Kajaks, wenn sie im eisigen Wasser umkippen. Zwar stehen die Wale unter Schutz, aber die Grönländer dürfen einige Tiere pro Jahr erlegen. Oft hängen sie im Ganzen an exponierten Orten, in Kirchen oder offiziellen Gebäuden. Manchmal aber entstehen auch wunderschöne Schnitzereien daraus.
Erlegen möchte ich einen Narwal niemals. Aber sehen, sehen würde ich schon noch gerne einen. Vielleicht muss ich wieder mal mit einer Gruppe reisen, die das im Programm hat.
Bis in zwei Wochen!
Eure
Birgit Lutz