Eis, sagen die anderen, ist doch immer das Gleiche. Wie kannst Du immer wieder ins Eis fahren, mitten im Sommer, jahrelang, immer wieder? Meistens lächle ich dann.
Ich lächle und denke an den Abend vor dem Gletscher in Spitzbergen, an dem die späte Augustsonne schon tief am Horizont stand, den Abend, an dem ich Zeit hatte, einfach an Deck zu stehen, alle anderen waren fort gefahren mit den Zodiacs, durch das Eis, ganz nah bei den Schollen. Ich war an Bord geblieben, allein. Alles war still, der Schiffsmotor schwieg, die Sonne stand tief und golden über dem Fjord und ich saß auf dem leicht angewärmten Holzdeck in der sanften Wärme der arktischen Spätsommersonne, in der klaren Luft, wie man sie sonst nur von einer Skitour kennt, im Spätwinter, wenn die Sonne wieder kommt.
Eis ist immer gleich? An so einem Abend, vor einem solchen Gletscher, passiert so viel. Und wäre man viele, viele Abende nacheinander hier, so wäre ein jeder anders.
Ein leises Plätschern, wenn sich kleine Eisberge drehen. Das Kreischen von Vögeln. Auf einmal ein Knallen, aus dem Innern des Eises, ein Grollen, so fern, so dunkel wie der Donner eines Wintergewitters. Der Gletscher kalbt, gewaltige Massen drücken sich langsam aber unerbittlich ins Wasser, verdrängen ganze Hochhäuser an Wassermassen, deswegen dauert es dann nicht lang, dann folgt das Rauschen, wenn am Ufer eine Welle entlangtanzt. Das ist der Tsunami, ausgelöst von dem Kalben des Gletschers.
Die Eisschollen beginnen zu tanzen im Wasser, auf und ab schaukeln sie auf den Wellen, das Wasser schwappt nach oben an ihnen und fließt glitzernd und schäumend wieder an ihnen herab. Dann erreicht die Welle das Schiff, das angehoben wird und sanft zu schaukeln beginnt, während das Wasser an den Fjordwänden rechts und links entlang rauscht und brandet.
Und dann ist es wieder still.
Dann gibt es wieder nur das Eis und das Meer und ein Schiff vor diesen gewaltigen Wänden.
Man folgt den Bewegungen des Eises, des Meers, der Wellen und des Schiffs mit den Augen und dem Körper. Man staunt über das Glitzern, schaut den Vögeln zu, wie sie an der Gletscherkante immer wieder ins Wasser stoßen und mit Fischen in ihren Schnäbeln wieder auftauchen. Man sucht nach Bären, Robben, Walrossen, die auf den Schollen sitzen könnten. Schaut durch das Fernglas noch ein Stückchen weiter hinein in diese Welt und wird sich wieder gewahr, wie weit entfernt wir doch von dieser Eiswand sind, die so nah aussieht, weil die Luft so rein und klar ist.
Es gibt Menschen, die sehen einmal einen Gletscher, konsumieren diese Pracht und reisen weiter, in wärmere Länder auf anderen Erdteilen mit anderen gebuchten Wundern.
Ich gehöre nicht dazu. Das Eis hat mich gefangen genommen, auf seine ganz eigene Art, weil es klein und groß zugleich ist, weil es hier dieses kleine Rauschen und Rinnsaltröpfeln gibt und gleichzeitig dieses große Krachen, die gewaltigen Bewegungen und Veränderungen – eben den alles umfassenden Umstand, dass all das immer in Bewegung und nie das Gleiche ist.
Wer das sehen kann, aufnehmen kann, wird mir so eine Frage nie stellen, und verstehen, wenn ich lächle, wenn es jemand anderes fragt.
Bis nächste Woche!
Ihre
Birgit Lutz
2 Gedanken zu „Notizen aus dem Eis 37 – Ein Abend vor dem Gletscher“
Oh ja!
Stundenlang, tagelang, wochenlang und noch viel länger kann man sich im Eis bewegen, ihm lauschen, zuschauen, seine Kälte spüren, sich gefangen nehmen lassen von seiner Pracht … und es ist und bleibt wunderschön, immer wieder überraschend und immer etwas ganz Besonderes. Es lässt einen bewusst werden, wie klein wir sind und wie mächtig und doch zerbrechlich all die Welt um uns herum.
Einem mächtigen Eisberg zuzuschauen, der – nachdem ein größeres Stück Eis aus ihm herausgekalbt ist – aus dem Gleichgewicht kommt, der sich plötzlich zu drehen beginnt, erst ganz langsam, dann immer schneller werdend, eine mächtige Welle vor sich herschiebend, begleitet von donnerndem und tosendem Krachen und Brausen, der – seinen neuen Schwerpunkt suchend – manchmal eine halbe Stunde oder länger im Wasser pendelt, bis er irgendwann zur Ruhe kommt, wieder Stille einkehrt und er vor einem im Wasser liegt, als wäre nichts gewesen, gänzlich verwandelt in seiner Form – das ist ganz großes Kino!
Wunderbar ist es auch dem Eis zu lauschen: dem mächtigen Donnern und Knallen eines Gletschers, tief in seinem Inneren, oder aber dem zarten knisternden “sizzling” des Eises, der stets entweichenden Luft vergangener Zeiten.
Und manchmal, wenn ein ganz klarer, dunkler, fast schwarzer Brocken Eis an einem vorbeigleitet, hunderte, vielleicht tausende von Jahren alt, fragt man sich, was darin wohl alles eingeschlossen sein mag an “Erinnerungen” …
Dem vorbeitreibenden Eis zuschauen ist wie der Blick in die Flammen eines Lagerfeuers. Es wird nie langweilig, es ist immer in Bewegung, ein sich stets veränderndes Bild, das in seiner Konstanz jedoch unendliche Ruhe auszustrahlen vermag.
Und einen immer wieder zum Staunen bringt, wenn es – seinen ganz eigenen Gesetzen folgend – auf einer überschaubaren Fläche verschieden schnell dahingleitende Ströme bildet, die sich alle in verschiedene, manchmal gar entgegengesetzte Richtungen bewegen, dass einem schwindlig werden kann beim Hinschauen.
Langweilig und stets dasselbe? Nie und nimmer!
Und immer, immer wieder gern 🙂
Oh das ist aber schön geschrieben!!!! Ja, genau so ist es! 🙂