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Birgit Lutz

In ihrer Polarkolumne, die ab 2021 immer freitags auf unserer Homepage neu erscheint, schreibt die Expeditionsleiterin und Autorin Birgit Lutz über alle Themenfelder der Polarregionen - von großen Erlebnissen und kleinen Momenten auf eigenen Reisen über aktuelle Entwicklungen in Arktis und Antarktis bis hin zu praktischen Informationen für Ihre Reisevorbereitung oder Empfehlungen zur Polarliteratur.

Notizen aus dem Eis 112 | Grönlands Gletscher schmelzen

Unsere Welt wird wärmer, das wissen wir mittlerweile alle. Aber wie schnell sie sich erwärmt und wie schnell auch manche Schmelzprozesse sogar in den nördlichsten Regionen der Welt fortschreiten – das erstaunt doch immer wieder sogar die Forschenden selbst.

Das jüngste Beispiel einer Gletscherstudie, die eine so schnelle Schmelze zeigt, liegt nur etwa 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt: Es handelt sich dabei um den 79° Nord-Gletscher im Nordosten Grönlands, dort, wo kaum je irgendjemand hinkommt. Kein Kreuzfahrtschiff, kein Hundeschlitten. Aber Glaziologinnen und Glaziologen des Alfred-Wegener-Instituts. Ihre so weitab von der Zivilisation platzierten Messinstrumente zeigen jetzt: Die Dicke des Gletschers hat seit 1998 um mehr als 160 Meter abgenommen.

Warum schmilzt auch so weit im Norden so viel Eis? Weil warmes, unter die Gletscherzunge fließendes Ozeanwasser dem Eis von unten zusetzt und gleichzeitig hohe Lufttemperaturen an der Oberfläche Seen entstehen lassen. Deren Wasser fließt durch mächtige Kanäle im Eis bis in den Ozean. Das Forschungsteam berichtet, dass einer dieser Kanäle eine Höhe von 500 Metern erreichte – das darüber verbleibende Eis ist nur noch 190 Meter dick. Wasser setzt den Gletschern also von oben und unten und innendrin zu.

Die Teams, die an dem Gletscher forschen, haben dabei weite Wege und ein einfaches Leben auf sich genommen. Ein Zeltlager diente als Basislager, um per Helikopter autonome Messgeräte mit moderner Radartechnologie in einen schwer zugänglichen Teil des Gletschers zu bringen. Auch Messflüge mit den Polarflugzeugen des Alfred-Wegener-Instituts flossen in eine wissenschaftliche Studie ein, die jetzt in der Fachzeitschrift The Cryosphere erschienen ist. Wer im vergangenen Winter bei meinen Arktischen Abenden dabei war, erinnert sich vielleicht noch an die Flugzeuge, mit denen der Meereisphysiker Christian Haas über das Meereis flog, um dort die Dicke zu messen – das sind die gleichen Flieger, die auch auf den Gletschern verwendet werden.

Bei dieser Studie ging es um die Frage, wie sich die schwimmenden Eiszungen mit zunehmender Erderwärmung verändern. In Grönland gibt es ja noch einige massive Schelfeise und große Gletscherzungen, die aufs Meer hinausragen. Der 79°Nord-Gletscher hat so eine. Warum ist das interessant? Man kann Schelfeise ein bisschen mit Korken vergleichen: Sie stecken in den großen Eisabflüssen der eisigen Insel und auch des eisigen Kontinents der Welt, der Antarktis. Wenn sie instabil werden, zieht das eine Beschleunigung des nachfließenden Eises nach sich. Und das wiederum würde zu einem stärkeren Anstieg des Meeresspiegels führen.

Der jetzt vorgestellte, einzigartige Datensatz aus Beobachtungen belegt, dass extrem hohe Schmelzraten auf großer Fläche nahe dem Übergang zum Inlandeis auftreten. Das Eis der schwimmenden Gletscherzunge ist insbesondere ab der Linie, wo das Eis am Boden aufsitzt seit 1998 um 32% dünner geworden. Außerdem entstehen große Kanäle an der Eisunterseite, die sich von der Landseite bilden, wahrscheinlich weil das Wasser riesiger Seen durch das Gletschereis abfließt. Beide Prozesse führten zu einer starken Ausdünnung des Gletschers in den letzten Jahrzehnten.

Aber eine Erkenntnis überraschte die Forschenden: Seit 2018 haben die Schmelzraten abgenommen, das heißt, die Schmelze geht zwar weiter, aber langsamer. Mögliche Ursache dafür sei ein kälterer Ozeaneinstrom, erstaunlich sei dabei, dass ein so träges System wie Gletscher so kurz messbar reagiert.

Katastrophische Entwicklungen wird aber auch das nicht aufhalten: Die Forschenden erwarten, dass diese schwimmende Gletscherzunge in den nächsten Jahren bis Jahrzehnte zerbricht.

Dieser Vorgang ist in etwa vergleichbar mit dem immer schnelleren Abschmelzen der Eisbarriere im Hornsund auf Spitzbergen, der einigen hier vielleicht ein Begriff ist. Auch dort werden wir den Kollaps, entgegen den Voraussagen früherer Modelle, bald noch erleben.

Wieder mal keine frohe Botschaft, aber das seid Ihr ja gewöhnt. Demnächst wieder etwas Reiselustigeres!

Bis in zwei Wochen!

Eure
Birgit Lutz

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Warum schmilzt auch so weit im Norden so viel Eis? Weil warmes, unter die Gletscherzunge fließendes Ozeanwasser dem Eis von unten zusetzt und gleichzeitig hohe Lufttemperaturen an der Oberfläche Seen entstehen lassen. Deren Wasser fließt durch mächtige Kanäle im Eis bis in den Ozean. Das Forschungsteam berichtet, dass einer dieser Kanäle eine Höhe von 500 Metern erreichte – das darüber verbleibende Eis ist nur noch 190 Meter dick. Wasser setzt den Gletschern also von oben und unten und innendrin zu.

Die Teams, die an dem Gletscher forschen, haben dabei weite Wege und ein einfaches Leben auf sich genommen. Ein Zeltlager diente als Basislager, um per Helikopter autonome Messgeräte mit moderner Radartechnologie in einen schwer zugänglichen Teil des Gletschers zu bringen. Auch Messflüge mit den Polarflugzeugen des Alfred-Wegener-Instituts flossen in eine wissenschaftliche Studie ein, die jetzt in der Fachzeitschrift The Cryosphere erschienen ist. Wer im vergangenen Winter bei meinen Arktischen Abenden dabei war, erinnert sich vielleicht noch an die Flugzeuge, mit denen der Meereisphysiker Christian Haas über das Meereis flog, um dort die Dicke zu messen – das sind die gleichen Flieger, die auch auf den Gletschern verwendet werden.

Bei dieser Studie ging es um die Frage, wie sich die schwimmenden Eiszungen mit zunehmender Erderwärmung verändern. In Grönland gibt es ja noch einige massive Schelfeise und große Gletscherzungen, die aufs Meer hinausragen. Der 79°Nord-Gletscher hat so eine. Warum ist das interessant? Man kann Schelfeise ein bisschen mit Korken vergleichen: Sie stecken in den großen Eisabflüssen der eisigen Insel und auch des eisigen Kontinents der Welt, der Antarktis. Wenn sie instabil werden, zieht das eine Beschleunigung des nachfließenden Eises nach sich. Und das wiederum würde zu einem stärkeren Anstieg des Meeresspiegels führen.

Der jetzt vorgestellte, einzigartige Datensatz aus Beobachtungen belegt, dass extrem hohe Schmelzraten auf großer Fläche nahe dem Übergang zum Inlandeis auftreten. Das Eis der schwimmenden Gletscherzunge ist insbesondere ab der Linie, wo das Eis am Boden aufsitzt seit 1998 um 32% dünner geworden. Außerdem entstehen große Kanäle an der Eisunterseite, die sich von der Landseite bilden, wahrscheinlich weil das Wasser riesiger Seen durch das Gletschereis abfließt. Beide Prozesse führten zu einer starken Ausdünnung des Gletschers in den letzten Jahrzehnten.

Aber eine Erkenntnis überraschte die Forschenden: Seit 2018 haben die Schmelzraten abgenommen, das heißt, die Schmelze geht zwar weiter, aber langsamer. Mögliche Ursache dafür sei ein kälterer Ozeaneinstrom, erstaunlich sei dabei, dass ein so träges System wie Gletscher so kurz messbar reagiert.

Katastrophische Entwicklungen wird aber auch das nicht aufhalten: Die Forschenden erwarten, dass diese schwimmende Gletscherzunge in den nächsten Jahren bis Jahrzehnte zerbricht.

Dieser Vorgang ist in etwa vergleichbar mit dem immer schnelleren Abschmelzen der Eisbarriere im Hornsund auf Spitzbergen, der einigen hier vielleicht ein Begriff ist. Auch dort werden wir den Kollaps, entgegen den Voraussagen früherer Modelle, bald noch erleben.

Wieder mal keine frohe Botschaft, aber das seid Ihr ja gewöhnt. Demnächst wieder etwas Reiselustigeres!

Bis in zwei Wochen!

Eure
Birgit Lutz