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Polarkolumne-Birgit-Lutz-Ueber-die-Weite
Birgit Lutz

Birgit Lutz

In ihrer Polarkolumne, die ab 2021 immer freitags auf unserer Homepage neu erscheint, schreibt die Expeditionsleiterin und Autorin Birgit Lutz über alle Themenfelder der Polarregionen - von großen Erlebnissen und kleinen Momenten auf eigenen Reisen über aktuelle Entwicklungen in Arktis und Antarktis bis hin zu praktischen Informationen für Ihre Reisevorbereitung oder Empfehlungen zur Polarliteratur.

Notizen aus dem Eis 18 – Über die Weite

Manchmal vermisse ich das Meer. Wo ich wohne, sehe ich Berge. Das ist schön. Sehr schön. Sie sind noch mit Schnee bedeckt, abends leuchten die Gipfel deswegen in einem kitschigen Rosa, das mich niemals unberührt lassen wird. Aber Berge… Berge verstellen manchmal die Sicht. Ich wohne in einem Tal am Anfang der Alpen, an drei Seiten Berge, nach wenigen hundert Metern oder einigen Kilometern endet unsere Sicht an Hängen.

Das hat mir noch nie etwas ausgemacht, weil ich in regelmäßigen Abständen aus dem Tal verschwinden und aufs Meer hinausfahren konnte, weil ich immer wieder auf weiten, weißen Ebenen stand, wo sich der Himmel in 180 Grad über einem aufspannt. Wo nichts den Blick aufhält, wo die Wolken viel Platz auf ihrer Himmelsleinwand haben.

Lange, bevor sie über uns waren, konnten wir in Grönland aufziehende Wolken sehen, wir konnten beobachten, wie sich manchmal unheilvolle Dunstberge am Horizont aufbauten aber dann an uns vorbeizogen und uns nie erreichten. Wenn schlechtes Wetter nahte, hatten wir Zeit, uns vorzubereiten, wir bemerkten Veränderungen und lasen den Himmel wie eine Vorhersage.

Jetzt ist das nicht so, ich sehe immer nur einen Ausschnitt des Himmels, die Wolken tauchen hinter Berggipfeln auf und verschwinden schnell hinter anderen, wir sehen nie, wie viele hinterherkommen. Auf den Reisen in der Arktis höre ich immer wieder, wie Menschen die Wolken anstaunen, die Muster, die sie auf den Himmel malen, die langen Schlieren, die gewaltigen Schichten, an der Meeresoberfläche angefangen.

Bei meiner Grönland-Durchquerung habe ich sie erst angestaunt, diese Weite. Als keine Berge, kein Meer, kein Land mehr zu sehen war, nur eine weiße Ebene aus Eis, mit vom Wind hinein gefrästen Rillen. Auf das Staunen folgte ein Gefühl des Gejagt-Seins, denn so sehr wir uns auch plagten, der Horizont veränderte sich nicht, die Landschaft veränderte sich nicht, wir schienen still zu stehen. Meine Augen hatten nichts, woran sie sich festhalten konnten, worauf sie zugehen und daran vorbei gehen konnten, es gab nichts zu überwinden, außer uns selbst. Schließlich freute ich mich über Nebeltage, denn dann sah ich nicht, dass wir nichts sahen.

Die Leere begann mich zu plagen, die Leere, in der alle Perspektiven immer die Gleiche waren, in der es nichts gab außer Eis und Himmel, Weiß und Blau. Meine Augen und mein Kopf, das wurde mir irgendwann nach zwei Wochen klar, waren es einfach nicht gewöhnt, so viel und doch so wenig zu sehen, so weit und doch alles gleich.

Steige ich hier auf einen der Gipfel um mich herum, sehe ich sogleich unzählige Gipfel mehr, ich sehe weitere Berge, Hänge, Almen, Landschaftsformen, Bäume, Bäche. So viel. Das Auge hat viel abzutasten, auszumessen, aufzunehmen. Hätte es in Grönland eine Anhöhe gegeben, so hätte ich meine Umgebung schnell überblickt, in hundert Kilometer Entfernung alles wie direkt neben mir, weit, weiß.

Damals fragte ich mich, ob es Niederländer oder Norddeutsche einfacher haben auf so einer
Ebene. Wenn Auge und Hirn es gewöhnt sind, weit zu sehen und nicht das Gefühl vermitteln, immer ins Leere zu fallen. Ich glaube, dass das tatsächlich so sein kann.

Jetzt ertappe ich mich immer öfter dabei, wie ich das Bild anschaue, das in meinem Büro an der Wand hängt, eine großformatige Aufnahme meiner Schlittenspur auf dem Inlandeis.

Die Weite ist eine der Charakteristika, die die Arktis für mich so faszinierend macht, und warum auch immer, vermittelt mir diese Weite nicht nur ein Gefühl der Freiheit, sondern auch der Geborgenheit. Nichts hält einen auf, man kann frei atmen. Immer öfter kommen mir dieser Tage auch die Verszeilen aus Eichendorffs Mondnacht in den Sinn, die häufig in ganz anderem Zusammenhang wieder gegeben werden, aber doch so schön sind: Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus. Meine Seele möchte ihre Flügel aufspannen. Allein, in engen Tälern geht das nicht.
Am schönsten in Spitzbergen finde ich deshalb nicht die alpengleichen spitzen Berge im Westen der Inseln. Mich zieht es in den Osten, dorthin, wo es nichts mehr gibt, wo sich eine Eiskappe über Nordaustlandet aufbaut, sanft aufsteigend, weit und weiß, leuchtend in der Ferne sich verlierend, in der silberdünnen Luft der Arktis.
Bald!

Bis nächste Woche!

Ihre
Birgit Lutz

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2 Gedanken zu „Notizen aus dem Eis 18 – Über die Weite“

  1. Liebe Birgit,

    oh ja! Du sprichst mir aus der Seele!

    In den Höhen des Schwarzwalds wohnend, habe ich wohl einen ähnlichen Blick aus dem Fenster wie du. Auch ich kann eigentlich nicht klagen, schaue ich doch hinaus in die Natur, auf Berge, Restschnee, erstes zartes Grün auf den Weiden …
    Und doch: mindestens jeden zweiten, dritten Tag steige ich aus meinem Hochtal hinauf auf eine Hochebene nahe des Feldbergs, den Stübenwasen, um den Blick schweifen zu lassen. In die Weite, die Ferne, bis zum Horizont – der sich zwar nicht 180° oder gar 360° in alle Richtungen erstreckt, aber dennoch weit nach Süden, bis in die Alpen und an klaren Tagen bis zum Mont Blanc.
    Unter den Füßen noch alten und immer wieder neuen Schnee, spannt sich dann weit über mir der Himmel auf, mal klar und unendlich tiefblau; in den letzten Tagen jedoch fegten die dunklen Wolken, vom Sturm gejagt, nur so über mich hinweg. Es war fast ein wenig wie am Meer. Und der Wind und die Wolken nahmen die Gedanken mit, in die Ferne. Nicht nach Süden in Richtung Alpen, sondern auch hinauf nach Norden, in den Norden und Nordosten Spitzbergens, wo sich Blick und Gedanken in der Weite verlieren können und man sich selbst dennoch in keinster Weise verliert oder verloren fühlt. Sondern angekommen.
    Wie schön wäre es, dies bald wieder spüren zu können!

    Herzliche Grüße aus dem Schwarzwald, Christiane

    Antworten
    • Liebe Christiane, danke für diesen schönen Kommentar! “sondern auch hinauf nach Norden, in den Norden und Nordosten Spitzbergens, wo sich Blick und Gedanken in der Weite verlieren können und man sich selbst dennoch in keinster Weise verliert oder verloren fühlt. Sondern angekommen.” – wie sonderbar, oder, dass man das so empfindet? Woran das nur liegt… aber es ist einfach so. Da hast Du tolle Worte dafür gefunden.
      Ich wünsche uns, dass wir das bald wieder erleben können!
      Herzliche Grüße!
      Birgit

      Antworten

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Manchmal vermisse ich das Meer. Wo ich wohne, sehe ich Berge. Das ist schön. Sehr schön. Sie sind noch mit Schnee bedeckt, abends leuchten die Gipfel deswegen in einem kitschigen Rosa, das mich niemals unberührt lassen wird. Aber Berge… Berge verstellen manchmal die Sicht. Ich wohne in einem Tal am Anfang der Alpen, an drei Seiten Berge, nach wenigen hundert Metern oder einigen Kilometern endet unsere Sicht an Hängen.

Das hat mir noch nie etwas ausgemacht, weil ich in regelmäßigen Abständen aus dem Tal verschwinden und aufs Meer hinausfahren konnte, weil ich immer wieder auf weiten, weißen Ebenen stand, wo sich der Himmel in 180 Grad über einem aufspannt. Wo nichts den Blick aufhält, wo die Wolken viel Platz auf ihrer Himmelsleinwand haben.

Lange, bevor sie über uns waren, konnten wir in Grönland aufziehende Wolken sehen, wir konnten beobachten, wie sich manchmal unheilvolle Dunstberge am Horizont aufbauten aber dann an uns vorbeizogen und uns nie erreichten. Wenn schlechtes Wetter nahte, hatten wir Zeit, uns vorzubereiten, wir bemerkten Veränderungen und lasen den Himmel wie eine Vorhersage.

Jetzt ist das nicht so, ich sehe immer nur einen Ausschnitt des Himmels, die Wolken tauchen hinter Berggipfeln auf und verschwinden schnell hinter anderen, wir sehen nie, wie viele hinterherkommen. Auf den Reisen in der Arktis höre ich immer wieder, wie Menschen die Wolken anstaunen, die Muster, die sie auf den Himmel malen, die langen Schlieren, die gewaltigen Schichten, an der Meeresoberfläche angefangen.

Bei meiner Grönland-Durchquerung habe ich sie erst angestaunt, diese Weite. Als keine Berge, kein Meer, kein Land mehr zu sehen war, nur eine weiße Ebene aus Eis, mit vom Wind hinein gefrästen Rillen. Auf das Staunen folgte ein Gefühl des Gejagt-Seins, denn so sehr wir uns auch plagten, der Horizont veränderte sich nicht, die Landschaft veränderte sich nicht, wir schienen still zu stehen. Meine Augen hatten nichts, woran sie sich festhalten konnten, worauf sie zugehen und daran vorbei gehen konnten, es gab nichts zu überwinden, außer uns selbst. Schließlich freute ich mich über Nebeltage, denn dann sah ich nicht, dass wir nichts sahen.

Die Leere begann mich zu plagen, die Leere, in der alle Perspektiven immer die Gleiche waren, in der es nichts gab außer Eis und Himmel, Weiß und Blau. Meine Augen und mein Kopf, das wurde mir irgendwann nach zwei Wochen klar, waren es einfach nicht gewöhnt, so viel und doch so wenig zu sehen, so weit und doch alles gleich.

Steige ich hier auf einen der Gipfel um mich herum, sehe ich sogleich unzählige Gipfel mehr, ich sehe weitere Berge, Hänge, Almen, Landschaftsformen, Bäume, Bäche. So viel. Das Auge hat viel abzutasten, auszumessen, aufzunehmen. Hätte es in Grönland eine Anhöhe gegeben, so hätte ich meine Umgebung schnell überblickt, in hundert Kilometer Entfernung alles wie direkt neben mir, weit, weiß.

Damals fragte ich mich, ob es Niederländer oder Norddeutsche einfacher haben auf so einer
Ebene. Wenn Auge und Hirn es gewöhnt sind, weit zu sehen und nicht das Gefühl vermitteln, immer ins Leere zu fallen. Ich glaube, dass das tatsächlich so sein kann.

Jetzt ertappe ich mich immer öfter dabei, wie ich das Bild anschaue, das in meinem Büro an der Wand hängt, eine großformatige Aufnahme meiner Schlittenspur auf dem Inlandeis.

Die Weite ist eine der Charakteristika, die die Arktis für mich so faszinierend macht, und warum auch immer, vermittelt mir diese Weite nicht nur ein Gefühl der Freiheit, sondern auch der Geborgenheit. Nichts hält einen auf, man kann frei atmen. Immer öfter kommen mir dieser Tage auch die Verszeilen aus Eichendorffs Mondnacht in den Sinn, die häufig in ganz anderem Zusammenhang wieder gegeben werden, aber doch so schön sind: Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus. Meine Seele möchte ihre Flügel aufspannen. Allein, in engen Tälern geht das nicht.
Am schönsten in Spitzbergen finde ich deshalb nicht die alpengleichen spitzen Berge im Westen der Inseln. Mich zieht es in den Osten, dorthin, wo es nichts mehr gibt, wo sich eine Eiskappe über Nordaustlandet aufbaut, sanft aufsteigend, weit und weiß, leuchtend in der Ferne sich verlierend, in der silberdünnen Luft der Arktis.
Bald!

Bis nächste Woche!

Ihre
Birgit Lutz