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Birgit Lutz

Birgit Lutz

In ihrer Polarkolumne, die ab 2021 immer freitags auf unserer Homepage neu erscheint, schreibt die Expeditionsleiterin und Autorin Birgit Lutz über alle Themenfelder der Polarregionen - von großen Erlebnissen und kleinen Momenten auf eigenen Reisen über aktuelle Entwicklungen in Arktis und Antarktis bis hin zu praktischen Informationen für Ihre Reisevorbereitung oder Empfehlungen zur Polarliteratur.

Notizen aus dem Eis 57 – Wäre die Welt doch ein Schiff

Es ist nun 15 Jahre her, dass ich zum ersten Mal auf ein Schiff gestiegen bin, das ins Eis fahren sollte. Es war ein russisches Schiff, ein Eisbrecher, und wir fuhren bis zum Nordpol. Zum ersten Mal sah ich Meereis, zum ersten Mal betrat ich Franz-Joseph-Land, sah ich Eisbären, und dieses Licht. Es tat sich ein ganzes, neues, vollkommen anderes Universum auf, das mich für immer für sich gewonnen hatte.

Die Reise begann in Moskau, ich lief über den Roten Platz und konnte dort schon kaum glauben, wo ich da war. Dann ging es nach Murmansk, auf einen kleinen Flughafen in der Tundra und mit dem Bus zum Nordmeerhafen, ein abgesperrtes Gebiet, die Kontrollen waren entsprechend. Der Expeditionsleiter war ein Russe, Victor Boyarsky, der Name sagte mir nichts.

Aus scheppernden Lautsprechern schallte die russische Hymne, als wir die Kolabucht hinausfuhren. In den nächsten zehn Tagen veränderte sich mein Leben für immer. Nicht nur, weil ich all die Schönheit der Arktis sah. Sondern weil ich sie auf einem russischen Schiff sah.

Es war eine sehr lustige Reisegruppe; wir feierten viel und schliefen wenig, aber immer stand ich morgens um acht auf der Brücke, um meinen Bericht nach Deutschland zu versenden (ich war dort für die Süddeutsche Zeitung). Ich fragte außerdem vielen Menschen Löcher in den Bauch und schrieb sehr, sehr viel. Der Expeditionsleiter war beeindruckt. So kamen wir ins Gespräch und so geschah es, dass ich irgendwann nicht mehr mit den Gästen, sondern irgendwo tief unter Deck mit der Crew feierte. Und so begann meine Liebe zu Russland.

Die Männer machten Platz für mich, holten saubere Gläser und Teller für mich, priesen mir ihr Essen an und schenkten mein Wodka-Glas immer nur halbvoll. Und jedes Mal bevor wir tranken, stand ein anderer aus der Runde auf und sprach einen Toast. Manchmal lustig, manchmal traurig. Russland kannte ich nur aus Erzählungen von meinem Großvater. Und so hielt ich irgendwann, nach genügend halben Gläsern Wodka und nachdem alle anderen gesprochen hatten, eine kleine Rede, wie schön es doch sei, dass wir hier säßen, Jahre später nach dem großen Krieg, dass es für mich eine Ehre sei, dass ich hier sein dürfte und wie wertvoll das sei. Die Männer, die ihre Gläser nie halb gefüllt hatten, zogen Taschentücher heraus und schnaubten, Victor sagte Molodez, Birgitych.

Am Ende dieser Reise lud Victor – von dem ich mittlerweile wusste, dass er einer der Helden der russischen Arktis war und einer der größten Polarforscher des heutigen Russland – mich nach Barneo ein, auf die russische Drifteisstation. Ich müsse das Meereis im Winter sehen, sagte er. Ich kam also nach Barneo, wo die Piloten mich in ihr Zelt einluden, viele Männer in Skiunterwäsche, wir aßen aus einer Pfanne und zeigten uns Bilder von zuhause. Sie lehrten mich russische Lieder oder versuchten es zumindest. Ich sah ihnen an, dass sie sich um mich sorgten, die kleine, dünne Frau, die zum Nordpol gehen wollte, auf Skiern. Und dass sie wirklich froh waren, als ich zurück war. In den nächsten Jahren brachten wir uns Geschenke mit. Ich begann, russisch zu lernen, in Sankt Petersburg. Und all die Menschen, die ich dort kennenlernte, passten sehr wenig zu diesem Bild, das im Westen oft von „den Russen“ gezeichnet wurde. Die Menschen und der Staat, das lernte ich in Russland, können sehr, sehr unterschiedlich sein. Diese Lektion war wichtig für mich, und ich vergesse sie auch jetzt nicht.

Victor fragte mich auch, ob ich auf dem Eisbrecher arbeiten wollte, und auch dazu sagte ich Ja. So begann meine Schiffsarbeit, ausgerechnet auf dem Schiff, dass zum allernördlichsten Punkt der Welt fuhr. Aus diesem einen Schiff wurden noch einige mehr, auf denen ich arbeitete. Die Kapitäne der arktischen und antarktischen Schiffe sind häufig Russen, weil sie wissen, wie man mit dem Eis umgeht. In der Crew sind häufig Russen, weil es gute Seeleute sind. Und ebenso viele Ukrainer. Auf einem der Segelschiffe sind die Schiffsmechaniker häufig aus der Ukraine. Schiffsmechaniker sind für einen Expeditionsleiter noch wichtiger als der Koch – weil sie meistens alles reparieren können, und gerade ich habe für so jemanden immer etwas zu tun. Und manchmal sitzen wir dann zusammen in der Messe, oder an Deck, trinken ein Bierchen miteinander oder einen heißen Tee und reden. Dann sind wir keine Ukrainer oder Deutsche, sondern einfach Menschen auf einem Schiff.

Es gibt auf diesen Schiffen ja immer so viele verschiedene Nationen. Und diese vielen Nationen auf engem Raum haben einen wunderbaren, auf ganz absonderliche Weise befreienden Effekt: Es ist vollkommen gleichgültig, wo man herkommt und wer man ist. Was in dem einen Land viel bedeutet, ist nichts wert im anderen, die Unterschiede unserer Kulturen zwischen deutsch, niederländisch, russisch, ukrainisch, isländisch, norwegisch, philippinisch, chinesisch, japanisch, indisch, ungarisch, polnisch, britisch – um nur einige zu nennen – sind viel zu groß, es sind einfach zu viele, um von allen die Eigenheiten zu kennen. Und so zählt auf Schiffen vor allem: was man tut und wie man ist. Für eine begrenzte Zeit sind wir alles, was wir haben. In diesen Schiffsbauchuniversen wächst man deswegen häufig sehr schnell zusammen. Man lernt sich kennen, im Guten, wie im Schlechten.

Schiffe oder Stationen in der Arktis oder Antarktis etablieren deshalb ihre eigene Weltordnung. Respekt erhält, wer seine Arbeit gut erledigt. Wer freundlich und hilfsbereit ist und anderen ihre Arbeit nicht unnötig erschwert. Wenn man Ruhe bewahren kann und freundlich bleibt. Wenn man Respekt zeigt für die anderen. Wenn man sich selbst auch einmal zurücknehmen kann. Wenn man mal etwas übernimmt für jemanden. Wenn man einfach etwas Gutes beiträgt zum großen Ganzen, denn viele an Bord sind Monate weg von ihren Familien und das ist nicht immer einfach.

Wenn das Wetter während einer Zodiacfahrt umschlägt und man in Sturm und Schnee zum Schiff zurückkehrt, konzentriert arbeiten muss, damit alles sicher abläuft, wenn am Ende alles gut gegangen ist und man wieder einmal gemeinsam etwas richtig Gutes verwirklicht hat – dann sind wir stolz, gemeinsam, und freuen uns. Wir arbeiten an einem Ziel. An einer Welt. Menschen können miteinander in Frieden leben. Sie können zusammen Ziele verfolgen und gemeinsam Großartiges auf die Beine stellen. Ich habe es gesehen.

Wäre die Welt doch ein Schiff.
Denn alles ist nichts ohne Frieden.

Eure
Birgit Lutz

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Die Reise begann in Moskau, ich lief über den Roten Platz und konnte dort schon kaum glauben, wo ich da war. Dann ging es nach Murmansk, auf einen kleinen Flughafen in der Tundra und mit dem Bus zum Nordmeerhafen, ein abgesperrtes Gebiet, die Kontrollen waren entsprechend. Der Expeditionsleiter war ein Russe, Victor Boyarsky, der Name sagte mir nichts.

Aus scheppernden Lautsprechern schallte die russische Hymne, als wir die Kolabucht hinausfuhren. In den nächsten zehn Tagen veränderte sich mein Leben für immer. Nicht nur, weil ich all die Schönheit der Arktis sah. Sondern weil ich sie auf einem russischen Schiff sah.

Es war eine sehr lustige Reisegruppe; wir feierten viel und schliefen wenig, aber immer stand ich morgens um acht auf der Brücke, um meinen Bericht nach Deutschland zu versenden (ich war dort für die Süddeutsche Zeitung). Ich fragte außerdem vielen Menschen Löcher in den Bauch und schrieb sehr, sehr viel. Der Expeditionsleiter war beeindruckt. So kamen wir ins Gespräch und so geschah es, dass ich irgendwann nicht mehr mit den Gästen, sondern irgendwo tief unter Deck mit der Crew feierte. Und so begann meine Liebe zu Russland.

Die Männer machten Platz für mich, holten saubere Gläser und Teller für mich, priesen mir ihr Essen an und schenkten mein Wodka-Glas immer nur halbvoll. Und jedes Mal bevor wir tranken, stand ein anderer aus der Runde auf und sprach einen Toast. Manchmal lustig, manchmal traurig. Russland kannte ich nur aus Erzählungen von meinem Großvater. Und so hielt ich irgendwann, nach genügend halben Gläsern Wodka und nachdem alle anderen gesprochen hatten, eine kleine Rede, wie schön es doch sei, dass wir hier säßen, Jahre später nach dem großen Krieg, dass es für mich eine Ehre sei, dass ich hier sein dürfte und wie wertvoll das sei. Die Männer, die ihre Gläser nie halb gefüllt hatten, zogen Taschentücher heraus und schnaubten, Victor sagte Molodez, Birgitych.

Am Ende dieser Reise lud Victor – von dem ich mittlerweile wusste, dass er einer der Helden der russischen Arktis war und einer der größten Polarforscher des heutigen Russland – mich nach Barneo ein, auf die russische Drifteisstation. Ich müsse das Meereis im Winter sehen, sagte er. Ich kam also nach Barneo, wo die Piloten mich in ihr Zelt einluden, viele Männer in Skiunterwäsche, wir aßen aus einer Pfanne und zeigten uns Bilder von zuhause. Sie lehrten mich russische Lieder oder versuchten es zumindest. Ich sah ihnen an, dass sie sich um mich sorgten, die kleine, dünne Frau, die zum Nordpol gehen wollte, auf Skiern. Und dass sie wirklich froh waren, als ich zurück war. In den nächsten Jahren brachten wir uns Geschenke mit. Ich begann, russisch zu lernen, in Sankt Petersburg. Und all die Menschen, die ich dort kennenlernte, passten sehr wenig zu diesem Bild, das im Westen oft von „den Russen“ gezeichnet wurde. Die Menschen und der Staat, das lernte ich in Russland, können sehr, sehr unterschiedlich sein. Diese Lektion war wichtig für mich, und ich vergesse sie auch jetzt nicht.

Victor fragte mich auch, ob ich auf dem Eisbrecher arbeiten wollte, und auch dazu sagte ich Ja. So begann meine Schiffsarbeit, ausgerechnet auf dem Schiff, dass zum allernördlichsten Punkt der Welt fuhr. Aus diesem einen Schiff wurden noch einige mehr, auf denen ich arbeitete. Die Kapitäne der arktischen und antarktischen Schiffe sind häufig Russen, weil sie wissen, wie man mit dem Eis umgeht. In der Crew sind häufig Russen, weil es gute Seeleute sind. Und ebenso viele Ukrainer. Auf einem der Segelschiffe sind die Schiffsmechaniker häufig aus der Ukraine. Schiffsmechaniker sind für einen Expeditionsleiter noch wichtiger als der Koch – weil sie meistens alles reparieren können, und gerade ich habe für so jemanden immer etwas zu tun. Und manchmal sitzen wir dann zusammen in der Messe, oder an Deck, trinken ein Bierchen miteinander oder einen heißen Tee und reden. Dann sind wir keine Ukrainer oder Deutsche, sondern einfach Menschen auf einem Schiff.

Es gibt auf diesen Schiffen ja immer so viele verschiedene Nationen. Und diese vielen Nationen auf engem Raum haben einen wunderbaren, auf ganz absonderliche Weise befreienden Effekt: Es ist vollkommen gleichgültig, wo man herkommt und wer man ist. Was in dem einen Land viel bedeutet, ist nichts wert im anderen, die Unterschiede unserer Kulturen zwischen deutsch, niederländisch, russisch, ukrainisch, isländisch, norwegisch, philippinisch, chinesisch, japanisch, indisch, ungarisch, polnisch, britisch – um nur einige zu nennen – sind viel zu groß, es sind einfach zu viele, um von allen die Eigenheiten zu kennen. Und so zählt auf Schiffen vor allem: was man tut und wie man ist. Für eine begrenzte Zeit sind wir alles, was wir haben. In diesen Schiffsbauchuniversen wächst man deswegen häufig sehr schnell zusammen. Man lernt sich kennen, im Guten, wie im Schlechten.

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