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Foto: David Hettich
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Birgit Lutz

Birgit Lutz

In ihrer Polarkolumne, die ab 2021 immer freitags auf unserer Homepage neu erscheint, schreibt die Expeditionsleiterin und Autorin Birgit Lutz über alle Themenfelder der Polarregionen - von großen Erlebnissen und kleinen Momenten auf eigenen Reisen über aktuelle Entwicklungen in Arktis und Antarktis bis hin zu praktischen Informationen für Ihre Reisevorbereitung oder Empfehlungen zur Polarliteratur.

Notizen aus dem Eis 59 – Alles schmilzt

Wir schaukeln in dem Zodiac hin und her, meine Hand ist schon fast am Gashebel Nach einer anhaltenden Hitzewelle ist in der Ost-Antarktis nun ein ganzes Eisschelf kollabiert. Die Eisfläche war etwa 1200 Quadratkilometer groß, das entspricht ungefähr der Stadtfläche von Rom.

In Zeiten wie diesen würde man gerne mal mit richtig guten Nachrichten aufwarten, aber leider. Leider. Trotz aller Probleme, die die Welt zurzeit hat, bleibt immer eines das allergrößte: Wie sehr wir unser Raumschiff Erde aufheizen. Der jüngste große Einschlag ist das Kollabieren eines Eisschelfs in der Ost-Antarktis. In diesem einen Satz stecken gleich mehrere Wörter, die erstaunen.

Fangen wir mit Ost-Antarktis an:
Die Ost-Antarktis ist der weitaus größere Teil der Antarktis, blickt man auf gängige Karten, kann man salopp sagen, der rechte Teil. Geographisch ist es das Gebiet östlich des Weddel- und westlich des Rossmeers oder eben der Teil des Kontinents, der in der östlichen Hemisphäre liegt, also auf östlicher Länge. Die Ost-Antarktis ist größer als Australien und ein gewaltiger Kühlschrank, sie ist eines der wichtigsten Kühlsysteme unserer Erde. Es ist hier noch deutlich kälter als an der Antarktischen Halbinsel; bis zu -93°C wurden hier schon gemessen; eisfreie Stellen gibt es so gut wie gar nicht. Kurz: Hier ist es sehr kalt.
Das Eisschild der Ostantarktis ist in den vergangenen Jahren sogar gewachsen, was aber auch schon mit der Erderwärmung zu tun hat – weil es wegen der größeren Verdunstung über den Ozeanen zu mehr Niederschlägen kommt, die dann zu Eis werden können. Den Verlust, der in der Westantarktis stattfindet, wiegt das aber nicht auf.

Bis vor kurzem dachte man also, die Eismassen der Ost-Antarktis seien stabil.
Nun ist es aber leider so, dass derlei Erkenntnisse oder Annahmen derzeit mit rasender Geschwindigkeit von der Wirklichkeit überholt werden. Mitte März erlebte diese Region eine noch nie gemessene Hitzewelle. An der Forschungsstation Concordia wurden lediglich -12,2°C gemessen, an der Station Wostok -17,7°C. Wer nun denkt, aber das ist ja immer noch sehr kalt, irrt sich. Diese Temperaturen liegen 40 Grad über dem Durchschnitt, und 20 Grad über den Werten aus dem Vorjahr. Es ist für dieses Eis, diese Region sehr, sehr warm.

Schauen wir uns jetzt den Begriff Eisschelf an:
Eisschelfe können auch Schelfeis genannt werden. Es sind, vereinfacht gesagt, die Verlängerungen von Gletschern oder Eiskappen, die ins Meer hineinraten, also der Teil eines Landeises, der sich aufs Meer hinausschiebt und ab einer bestimmten Wassertiefe dann nicht mehr weiter auf dem Meeresboden aufliegt, sondern schwimmt. Solche Schelfe sind meistens zwischen 200 und 1000 Metern dick. An den Rändern brechen Eisberge ab, aufgrund der Größe der Schelfe sind es meistens Tafeleisberge. Brechen diese Eisberge ab und schmelzen, trägt das erst einmal nur wenig zum Anstieg des Meeresspiegels bei: Das Eis war zuvor ja auch schon großteils im Wasser. Viele dieser Schelfe haben aber eine Funktion, die man als Bremse oder Korken für die dahinter liegenden Eismassen bezeichnen könnte: Wenn sich Schelfe vom Inlandeis lösen, kann danach das Inlandeis schneller ins Meer abfließen. Und dieses Eis war zuvor ja nicht im Wasser und trägt damit zu einem Anstieg des Meeresspiegels bei.

Es gibt einige Szenarien in der Antarktis, die dramatische Auswirkungen haben könnten, da hier einzelne Gletscher bisher ganz gewaltige Eismassen gebremst haben. Fällt diese Bremse weg und kommt es zu einer Beschleunigung des Eis-Abflusses des Kontinentaleises, kann das bei einzelnen Gletschern bis zu drei Meter Meeresspiegelanstieg verursachen. Die Frage wäre dabei lediglich, wie schnell es ginge.

Dann schauen wir uns den Begriff „kollabieren“ an: Dass Eisberge von Eisschelfen abbrechen, ist ein normaler Vorgang, ab einer bestimmten Ausdehnung brechen die Eismassen ab, das Schelf kalbt, wie man das auch von Gletschern kennt. Was nicht normal ist, ist das Zerbrechen der gesamten Eisplatte und sein Ablösen vom Inlandeis. Dann spricht man von Kollabieren. Hinterher ist nichts mehr da, das Schelfeis ist weg.

Genau das ist nun in der Ost-Antarktis passiert. Dort ist das Conger-Eisschelf innerhalb weniger Tage vollständig kollabiert. Irgendwann Mitte März hat es seine Verbindung zum Festland verloren und ist auseinandergebrochen, in mehrere große Teile. Der größte davon ist nun der Eisberg C-38. Er ist in guter Gesellschaft, denn auch an den benachbarten Landeismassen, dem Glenzer-Eisschelf und dem Totten-Gletscher – dem größten Gletscher der Ost-Antarktis – wurden auf Satellitenbilder große Abbrüche sichtbar.

Was bedeutet das nun?
Das wissen die Forscher noch nicht genau. Sicher ist nur, dass all diese Vorgänge bisher in dieser Form noch nicht beobachtet wurden. Sie können der Anfang der großen Schmelze der Antarktis sein. In jedem Fall sind sie ein weiterer Beleg dafür, dass es gut wäre, auf die Warnungen von Forschern zu hören. Auf diejenigen zum Beispiel, die im gerade veröffentlichten Teil des 6. Klimaberichts darauf hinweisen, dass uns mit unserem gegenwärtigen Vorgehen nur noch acht Jahre bleiben, bis die Temperatur unserer Erde um 1,5°C wärmer sein wird. Dann werden solche Abbrüche nicht mehr ungewöhnlich, sondern normal sein.

Es tut mir leid, dass ich diese Woche keine besseren Nachrichten für euch habe – in zwei Wochen dafür wieder etwas Leichteres, aus der Luft!

Bis in zwei Wochen!

Eure
Birgit Lutz

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In Zeiten wie diesen würde man gerne mal mit richtig guten Nachrichten aufwarten, aber leider. Leider. Trotz aller Probleme, die die Welt zurzeit hat, bleibt immer eines das allergrößte: Wie sehr wir unser Raumschiff Erde aufheizen. Der jüngste große Einschlag ist das Kollabieren eines Eisschelfs in der Ost-Antarktis. In diesem einen Satz stecken gleich mehrere Wörter, die erstaunen.

Fangen wir mit Ost-Antarktis an:
Die Ost-Antarktis ist der weitaus größere Teil der Antarktis, blickt man auf gängige Karten, kann man salopp sagen, der rechte Teil. Geographisch ist es das Gebiet östlich des Weddel- und westlich des Rossmeers oder eben der Teil des Kontinents, der in der östlichen Hemisphäre liegt, also auf östlicher Länge. Die Ost-Antarktis ist größer als Australien und ein gewaltiger Kühlschrank, sie ist eines der wichtigsten Kühlsysteme unserer Erde. Es ist hier noch deutlich kälter als an der Antarktischen Halbinsel; bis zu -93°C wurden hier schon gemessen; eisfreie Stellen gibt es so gut wie gar nicht. Kurz: Hier ist es sehr kalt.
Das Eisschild der Ostantarktis ist in den vergangenen Jahren sogar gewachsen, was aber auch schon mit der Erderwärmung zu tun hat – weil es wegen der größeren Verdunstung über den Ozeanen zu mehr Niederschlägen kommt, die dann zu Eis werden können. Den Verlust, der in der Westantarktis stattfindet, wiegt das aber nicht auf.

Bis vor kurzem dachte man also, die Eismassen der Ost-Antarktis seien stabil.
Nun ist es aber leider so, dass derlei Erkenntnisse oder Annahmen derzeit mit rasender Geschwindigkeit von der Wirklichkeit überholt werden. Mitte März erlebte diese Region eine noch nie gemessene Hitzewelle. An der Forschungsstation Concordia wurden lediglich -12,2°C gemessen, an der Station Wostok -17,7°C. Wer nun denkt, aber das ist ja immer noch sehr kalt, irrt sich. Diese Temperaturen liegen 40 Grad über dem Durchschnitt, und 20 Grad über den Werten aus dem Vorjahr. Es ist für dieses Eis, diese Region sehr, sehr warm.

Schauen wir uns jetzt den Begriff Eisschelf an:
Eisschelfe können auch Schelfeis genannt werden. Es sind, vereinfacht gesagt, die Verlängerungen von Gletschern oder Eiskappen, die ins Meer hineinraten, also der Teil eines Landeises, der sich aufs Meer hinausschiebt und ab einer bestimmten Wassertiefe dann nicht mehr weiter auf dem Meeresboden aufliegt, sondern schwimmt. Solche Schelfe sind meistens zwischen 200 und 1000 Metern dick. An den Rändern brechen Eisberge ab, aufgrund der Größe der Schelfe sind es meistens Tafeleisberge. Brechen diese Eisberge ab und schmelzen, trägt das erst einmal nur wenig zum Anstieg des Meeresspiegels bei: Das Eis war zuvor ja auch schon großteils im Wasser. Viele dieser Schelfe haben aber eine Funktion, die man als Bremse oder Korken für die dahinter liegenden Eismassen bezeichnen könnte: Wenn sich Schelfe vom Inlandeis lösen, kann danach das Inlandeis schneller ins Meer abfließen. Und dieses Eis war zuvor ja nicht im Wasser und trägt damit zu einem Anstieg des Meeresspiegels bei.

Es gibt einige Szenarien in der Antarktis, die dramatische Auswirkungen haben könnten, da hier einzelne Gletscher bisher ganz gewaltige Eismassen gebremst haben. Fällt diese Bremse weg und kommt es zu einer Beschleunigung des Eis-Abflusses des Kontinentaleises, kann das bei einzelnen Gletschern bis zu drei Meter Meeresspiegelanstieg verursachen. Die Frage wäre dabei lediglich, wie schnell es ginge.

Dann schauen wir uns den Begriff „kollabieren“ an: Dass Eisberge von Eisschelfen abbrechen, ist ein normaler Vorgang, ab einer bestimmten Ausdehnung brechen die Eismassen ab, das Schelf kalbt, wie man das auch von Gletschern kennt. Was nicht normal ist, ist das Zerbrechen der gesamten Eisplatte und sein Ablösen vom Inlandeis. Dann spricht man von Kollabieren. Hinterher ist nichts mehr da, das Schelfeis ist weg.

Genau das ist nun in der Ost-Antarktis passiert. Dort ist das Conger-Eisschelf innerhalb weniger Tage vollständig kollabiert. Irgendwann Mitte März hat es seine Verbindung zum Festland verloren und ist auseinandergebrochen, in mehrere große Teile. Der größte davon ist nun der Eisberg C-38. Er ist in guter Gesellschaft, denn auch an den benachbarten Landeismassen, dem Glenzer-Eisschelf und dem Totten-Gletscher – dem größten Gletscher der Ost-Antarktis – wurden auf Satellitenbilder große Abbrüche sichtbar.

Was bedeutet das nun?
Das wissen die Forscher noch nicht genau. Sicher ist nur, dass all diese Vorgänge bisher in dieser Form noch nicht beobachtet wurden. Sie können der Anfang der großen Schmelze der Antarktis sein. In jedem Fall sind sie ein weiterer Beleg dafür, dass es gut wäre, auf die Warnungen von Forschern zu hören. Auf diejenigen zum Beispiel, die im gerade veröffentlichten Teil des 6. Klimaberichts darauf hinweisen, dass uns mit unserem gegenwärtigen Vorgehen nur noch acht Jahre bleiben, bis die Temperatur unserer Erde um 1,5°C wärmer sein wird. Dann werden solche Abbrüche nicht mehr ungewöhnlich, sondern normal sein.

Es tut mir leid, dass ich diese Woche keine besseren Nachrichten für euch habe – in zwei Wochen dafür wieder etwas Leichteres, aus der Luft!

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